Leseprobe Nur für dich
Nur für dich
Von Sandra Gernt
“Auch das noch.“
Thomas ließ sich in seinem Bürostuhl zurückfallen, ohne zu versuchen, seinen Ärger zu verbergen. „Ist nicht Ihre Schuld“, fügte er allerdings lahm dazu.
Sein Gegenüber musterte ihn ruhig – nein, sein neuer Partner, korrigierte Thomas sich selbst innerlich. Detective Colin Thorps.
Rund 1,85 m groß, laut Notiz 29 Jahre alt, breitschultrig, athletischer Körperbau. Eindeutig ein Hingucker! Blondes kurzes Haar, vielleicht ein wenig zu kurz für Thomas’ Geschmack. Ein schmales Gesicht mit gepflegtem Dreitagebart. Dunkelblaue Augen, die ihn leicht amüsiert anvisierten. Wie er so dastand, in schwarzem Shirt, verblichener Jeans, die Arme vor der Brust verschränkt, sah er Ricky so ähnlich, dass Thomas krampfhaft schlucken musste.
Ricky ist tot.
Er sollte so langsam aufhören, sich von jedem gutaussehenden Kerl an ihn erinnert zu fühlen. An Hände, die durch seine dunkelbraunen Haare wühlten und ihn neckten, dass er dringend zum Friseur müsse. Die über seinen Körper wanderten und jeden Millimeter erkundeten. An die raue Stimme, die seinen Namen flüsterte, wenn sie sich liebten. Thomas unterdrückte den Schmerz, der zu all diesen Gedanken gehörte und atmete tief durch. Ein Glück, dass die Tür seiner winzigen Abstellkammer – Mike, sein Teamleiter, beharrte hartnäckig darauf, es „Büro“ zu nennen – geschlossen war. Neugierige Kollegen, die jedes Wort belauschten, das er mit dem Neuen wechselte, darauf konnte er verzichten.
“Tschuldigung“, murmelte er und zwang sich zu etwas, das einem Lächeln zumindest nahe kommen könnte. „Ich habe seit mehr als einem Jahr keinen Partner mehr gehabt, Colin – ich darf doch Colin sagen? – gut. Hör zu, seit fünfzehn Monaten versuche ich, genug Beweise gegen diese Ratte Luigi DiMarris zu sammeln. Schon von ihm gehört?“ Colin schüttelte den Kopf. Er war eben noch ganz frisch …
“Chef eines Drogendealerrings. Gestern wurde einer meiner Informanten mit akuter Bleivergiftung aus einer Schrottpresse gezogen, zum Glück bevor man ihn zu einem handlichen Würfel verarbeitet hatte. Justin war vielleicht nur ein kleiner Dealer, trotzdem, er hatte das eine oder andere beigetragen, den Fall gegen DiMarris zu erhärten. Es ist nicht so, dass ich keine zusätzliche Hand gebrauchen könnte, aber jemand, der komplett neu im Revier wie im Job ist, hier einzuarbeiten …“
Colin hatte gerade erst die Prüfungen zum Detective bestanden, viel frischer konnte man wirklich nicht sein. Ein übereifriger Neuling könnte ihm den ganzen Fall versauen!
Der junge Mann hob die Hand, um irgendetwas einzuwerfen, doch Thomas ruderte bereits zurück. Woher sollte er wissen, ob Colin nicht vielleicht von der Inneren Abteilung eingeschleust wurde, um ihm über die Schulter zu blicken? War es tatsächlich nur ein Zufall, dass der Typ einen Tag nach Justins Tod unangekündigt hier auftauchte? Besser, er gab sich offen und zugänglich, bevor man ihn von dem Fall abzog.
“Schon gut, nein, ich … ich hab nichts dagegen, einen Partner zu bekommen, okay? Bin keiner der einsamen Wölfe, es hatte sich so ergeben. Ist sicherlich nicht schlecht, wenn vielleicht jemand mit einer neuen Perspektive dazukommt … Setz dich doch!“ Ein wenig zu hektisch zerrte Thomas an dem Stapel Akten, Zeugenaussagen und anderen Papierkram, der sich auf dem unbenutzten Stuhl neben ihm hochstapelte. Mit lautem Krachen stürzte alles zu Boden. Fluchend rutschte Thomas runter, begann, die losen Papiere zusammenzuschieben und erstarrte, als Colin sich zu ihm gesellte. Sein Duft nach Aftershave, Shampoo und Mann stieg ihm in die Nase und löste damit ein Feuerwerk von Erregung und Verlangen aus, das Thomas schlicht überforderte. Ricky hatte dasselbe Aftershave benutzt!
“Du bist der Chef und ich versuche, dir aus den Füßen zu bleiben, wenn wir draußen sind. Ich will meinen ersten Job nicht vermasseln, okay?“, sagte Colin leise. Es war das Erste, was er bislang von sich gegeben hatte, abgesehen von „hi“ und „hier“, als er Thomas das Schreiben des Chiefs überreicht hatte, mit der kurzen Mitteilung, dass Colin ab sofort sein Partner sein würde. Typisch für den Alten, ihn so vor vollendete Tatsachen zu stellen. So konnte man nicht protestieren.
“Du heißt Thomas?“
Was für eine faszinierende Stimme dieser Mann hatte! Eine ungewöhnliche Tonlage, hell und melodiös und trotzdem sehr männlich. Ob Colin Sänger war? Er klang wie ein ausgebildeter Opernsänger! In seiner Freizeit vielleicht … Davon würde er ab jetzt nicht mehr allzu haben, im Drogendezernat ging es anders zu als bei den Uniformierten in der Vorstadt, wo Colin zuvor gewesen war.
Thomas räusperte sich nervös, als er spürte, wie der Mann langsam unruhig wurde.
Na toll. Noch auffälliger ging’s wohl nicht? Er hätte sich auch gleich schwul auf die Stirn tätowieren können, wahrscheinlich hatte er den Kerl gerade mit Blicken ausgezogen, ohne es wollen. Es war schon so lange her, seit er das letzte Mal …
Das Klingeln seines Handys rettete Thomas aus diesem peinlichen Moment.
“Ja? Okay, sofort. Treffpunkt wie immer.“ Er sprang auf, warf die Akten achtlos auf den ohnehin rettungslos überhäuften Schreibtisch. „Das war einer meiner Informanten, er will sich mit mir treffen“, rief er über die Schulter, während er bereits seine Lederjacke überstreifte und die Tür aufriss. Colin folgte sofort, offenkundig begierig, sich zu beweisen. Im Vorbeigehen informierte Thomas noch rasch Mike Wilkox, seinen Teamleiter: „Bin in der Harleystreet, Ian hat sich gemeldet. Wird sicher was mit Justins Tod zu tun haben!“ Sein Vorgesetzter nickte nur, ohne die lebhafte Diskussion mit Nora, Kevin Masterson – dem Rest vom Team – und zwei Typen vom Labor zu unterbrechen. Ian gehörte ebenfalls zum Drogendezernat, er hatte sich undercover in DiMarris’ Organisation eingeschlichen. Diese Ratte war misstrauisch, es konnte Jahre dauern, sein Vertrauen zu gewinnen. Ob Ian in Gefahr war? Justin hatte nichts von ihm gewusst … Außerdem würde Ian dann abtauchen statt sich in ein öffentliches Café zu setzen und Neuigkeiten weiterzugeben. Vielleicht hatte er endlich den entscheidenden Schritt auf der Hierarchieleiter nach vorne geschafft und konnte Beweise liefern? Bedeutsame Details, mit denen der Drogenring zerschlagen werden könnte?
Nein, cool bleiben, lieber nichts erwarten, dann kannst du auch nicht enttäuscht werden!
Im Fahrstuhl musste Thomas den Blick abwenden. Das Metall spiegelte erbarmungslos ihre Abbilder, Colin war Ricky einfach viel zu ähnlich. Eine reifere Ausgabe von Ricky. Ein Mann, kein Junge mehr. Ricky hatte allerdings eine lange blasse Narbe am Hals gehabt, von einer Schilddrüsenoperation. Colins Haut hingegen war makellos, dass war trotz des leichten Bartwuchses deutlich.
Da bitte, du siehst Gespenster. Seine dunkelbraunen Augen starrten ihm verzweifelt entgegen.
Ich sollte dringend abschließen.
Er wusste, was er zu tun hatte. Er war heute genauso wenig dazu bereit wie vor zehn Jahren.