Leseprobe „Jenseits der Eisenberge“
Prolog
Er zögerte. Alles in ihm wehrte sich dagegen, in dieses finstere Verlies hinabzusteigen. Doch es gab keine andere Möglichkeit. Der Priester vor ihm winkte ungeduldig, hastete dann weiter die Steintreppe hinunter. Er folgte ihm langsamer. Noch immer war er stark, ein Krieger, der sein Leben lang Geist und Körper geformt hatte. In diesem Augenblick fühlte er sich alt, als wäre die Last all der vielen Jahre, die er bereits gesehen hatte, mit einem Schlag auf ihn niedergegangen.
Der dumpfe, feucht-modrige Geruch, der jedem Kerker anhaftete, wehte ihm entgegen, als er tiefer stieg. Er spürte den schimmeligen Belag an den Wänden unter seinen Fingern, doch das musste er hinnehmen; er musste sich abstützen, wollte er diesen Weg bis zu seinem Ende gehen.
“Beeilt Euch!“, zischte der Priester wütend, das Gesicht verzerrt vor innerer Anspannung.
Beide Männer fuhren zusammen, als sie einen fernen Schrei hörten.
“Nun eilt Euch!“, befahl der Priester noch einmal, diesmal etwas sanfter, und lief dann wieder voraus.
Er blickte kurz zurück. Noch konnte er fliehen. Noch war es nicht zu spät.
Aber das durfte und wollte er nicht. In den unzähligen Schlachten, die er geführt hatte, war er kein einziges Mal fortgelaufen. Vor keinem Feind hatte er sich gebeugt, egal wie groß die Angst gewesen sein mochte. Mit zusammengebissenen Zähnen betrat er den düsteren Gang, vermied es dabei sich auszumalen, was hinter den schweren, eisenbeschlagenen Türen der Verliese liegen mochte, die sich hier aneinanderreihten. Wie viele ungehörte Schreie bereits an diesen Mauern zerschellt waren.
“Hierher!“ Der Priester packte ihn unvermittelt am Arm und zog ihn durch eine Tür, wo Augenblicke zuvor nichts als nackte Felswand gewesen zu sein schien.
Er musste sich ducken, der Geheimgang war nicht für seine mächtige Gestalt gebaut worden. Der Priester befand sich nun hinter ihm und verschloss die verborgene Tür. Völlige Dunkelheit umgab sie, was sein Herz stärker zum Klopfen brachte, als er sich selbst eingestehen wollte. Unsicher tastete er über roh behauenes Gestein, bis der Gang sich endlich weitete und er den Raum betrat, von dem der Priester zuvor gesprochen hatte. Er wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und wartete, bis der Geweihte eine Laterne entzündete. Schwaches Licht erhellte die Kammer, die kaum groß genug für sie beide war; dazu vollkommen leer, abgesehen von einem Schemel an der Stirnwand.
“Setzt Euch, und kein Laut, sonst sind wir alle verloren!“, wisperte der Priester. Einen Moment lang wünschte er diesem Geweihten die blaue Robe zu entreißen und solange auf ihn einzuprügeln, bis er niemals wieder auf dieser Welt einen Laut von sich geben würde. Doch er wusste, der Priester war nicht sein Feind.
Die wenigen Schritte bis zu dem Schemel schienen ihm so schwer, als müsste er zu einem Galgen hinaufsteigen. Als er endlich saß, presste er die Stirn gegen die Wand und blickte durch die Sehschlitze, die ihm ungehinderte Sicht in die Kerkerzelle gewährten, die hinter dieser Mauer lag, lediglich von einer fast abgebrannten Fackel erhellt.
Das Ritual hatte noch nicht begonnen, stellte er sofort fest. Wie sehr hatte er gewünscht, zu spät zu kommen, um es nicht mit ansehen zu müssen! Nun gab es kein Zurück mehr. Unter keinen Umständen würde er aufstehen, bevor es vorbei war, und wenn das Schloss um ihn herum einstürzen sollte!
Der Gefangene lag keinen halben Schritt von ihm entfernt auf der nackten Erde. Er war bewusstlos, man hatte ihn brutal geschlagen. Nur die mühsamen Atemzüge bewiesen, dass er noch lebte.
Er biss sich auf die Fingerknöchel, um nicht laut über den Anblick dieser elenden Gestalt zu schreien; die Wunden seines entblößten Leibs waren unversorgt, und, wie er genau wusste, hatte man dem Gefangenen in den vier Tagen seit seiner Verhaftung kein Essen und nur wenig Wasser erhalten. Er rührte sich nicht, als sich die Kerkertür öffnete und vier schemenhafte Schatten hereindrängten. Fackeln wurden entzündet und an den Wänden verteilt und beleuchteten die Roben der Geweihten, die nach dem Gefangenen griffen und ihn gemeinsam auf das Holzpodest legten, das sich in der Mitte des Verlieses befand. Das lange, verfilzte schwarze Haar glitt vom Gesicht des Besinnungslosen, als er wenig behutsam abgelegt, dann an Hand- und Fußgelenken gefesselt wurde. Der Gefangene begann sich zu regen; er unterdrückte einmal mehr einen verzweifelten Schrei beim Anblick all des Schmerzes in diesem Gesicht, das er so sehr liebte. Stöhnend schaute der Gefangene auf zu der Priesterin in brauner Kutte, die sich mit einem Becher in der Hand über ihn beugte.
“Trink das“, befahl sie ihm, hielt ihm den Becher an die Lippen, während einer der beiden Geweihten in der blauen Tracht des Himmelsvaters ihm half, den Kopf zu heben.
Er wusste, dieser Trank würde nicht die Schmerzen lindern, sondern nur dafür sorgen, dass der Gefangene für die gesamte Dauer des Rituals bei Bewusstsein blieb.
“Er ist zu kalt“, sagte die Priesterin, ohne die Stimme zu heben. Die zweite Geweihte der Erdmutter, die sich bislang still im Hintergrund gehalten hatte, wandte sich sofort um, eilte aus dem Verlies und kehrte rasch mit einer schmutzigen Decke zurück, die man gnädig über den zerschundenen Körper breitete.
“Was habt ihr vor?“, fragte der Gefangene heiser. Sein Blick irrte zu der Wand, hinter der er sich verbarg – hatte er sich durch einen Laut verraten? Es machte ihn stolz zu sehen, dass die Folter diesen Mann nicht hatte brechen können; das Feuer, das schon immer in den dunklen Augen geleuchtet hatte, brannte mit unverminderter Kraft.
Keiner der Geweihten gab Antwort. Stattdessen befestigten sie Lederriemen an seinem Kopf, bis er sich nicht mehr rühren konnte.
Einer der männlichen Priester drehte kurz den Kopf in die Richtung, wo sich die Sehschlitze befanden, und nickte ihm zu. Es war derjenige, der ihn in den Geheimgang geführt hatte. Nun zog er ein unscheinbares silbernes Amulett aus seiner Robe und legte es auf die Stirn des Gefangenen, genau zwischen seine Augen.
“Was macht ihr mit mir?“, rief er. Angst lag in seiner vom Schreien rauen Stimme. Niemand gab ihm Antwort.
“Die große Mutter schenkt uns allen ein Leben. Aus ihrem Leib gehen wir hervor. In ihren Leib kehren wir zurück“, intonierten beide Priesterinnen gemeinsam und zeichneten mit einer dunklen Paste etwas auf die rechte Wange des Gefangenen, was der alte Mann nicht sehen konnte.
“Der große Vater schenkt uns allen Erkenntnis. Sein Geist segnet unser Dasein“, sprachen die zwei Priester zugleich und ließen einige Tropfen einer Flüssigkeit auf den Gefesselten niederregnen.
Dann legten alle vier einen Finger auf das Amulett und begannen in einer fremden Sprache zu murmeln. Eine fühlbare Spannung baute sich auf, die auch ihn als Beobachter erfasste und ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Das Amulett begann, aus sich selbst heraus in einem warmen Licht zu leuchten und zu pulsieren. Rasch, aber gleichmäßig, wie ein Herz, das voller Angst dahinjagte.
“Was du warst, was du bist, die Geschichte deines Lebens wird bewahrt bleiben“, flüsterten die Priester, wechselten danach wieder in die fremdartige Sprache, die er noch nie zuvor gehört hatte. Der Gefangene, der bis dahin starr dagelegen hatte, mit angstvoll geweiteten Augen und abgehackten Atemstößen das Ritual ertragen hatte, begann plötzlich zu schreien. Ein hoher, schriller Laut, wie von einem Tier, das aufgeschlitzt wurde. Es zerriss ihm das Herz, doch er konnte sich nicht abwenden. Er sah, wie sich das Opfer in seinen Fesseln wand, sich aufzubäumen versuchte. Dann brach der Schrei ab, so unvermittelt, dass die nachfolgende Stille unerträglich schien. Die vier befreiten den nun reglos daliegenden Mann von allen Fesseln und traten zurück. Das silberne Amulett verschwand im Ärmel eines der Geweihten.
“Sag deinen Namen!“, befahl die Priesterin, die das Ritual zu leiten schien.
Der Blick des Gefangenen blieb leer, das Gesicht ausdruckslos.
“Sag deinen Namen!“, wiederholte sie.
“Ich … weiß nicht“, wisperte der Mann, so leise, dass es kaum zu hören war.
Zufrieden nickten die Priester sich zu, hoben ihn von dem Podest und legten ihn zurück auf den Boden. Er starrte unbewegt ins Leere, wie eine zerstörte Puppe, die achtlos in eine Ecke geworfen worden war.
“Lasst ihm die Decke“, bestimmte die Priesterin. „Ich werde das mit dem Kerkermeister besprechen.“ Damit ergriffen sie ihre Fackeln und verließen den Raum, der nun in vollkommener Finsternis versank.
Er blieb still sitzen, bis sich ihm eine Hand auf die Schulter legte und folgte dem Priester. Hinaus auf den Gang, die Treppe hoch, bis sie wieder in der großen Halle angelangt waren, die zu dieser nächtlichen Stunde verlassen und dunkel dalag.
“Er wird sicher sein, Herr“, flüsterte der Geweihte.
“Ich danke Euch“, erwiderte er, zu erschöpft, um Wut zu empfinden, oder Verzweiflung. Oder überhaupt irgendetwas.
“Habt Vertrauen. Ich werde das Amulett weitergeben, wie ich es versprochen hatte. Geht nun, versucht zu schlafen.“ Der Priester schien mit den Schatten zu verschmelzen, so lautlos und rasch verschwand er.
Er ließ seine Füße den Weg zurück zu seinen Gasträumen wählen. Er vertraute den Priestern, die so viel riskiert hatten, indem sie sich dem Willen des Königs widersetzten. Doch demjenigen, der seinen Sohn retten sollte, würde er niemals vertrauen. Es gab nur wenige Menschen, die er noch lieber tot sehen wollte als ihn.