Leseprobe „Die Meister der Am’churi“

Prolog

“Die Zeit ist gekommen, Am’chur.“
Der Drachengott ignorierte Kalesh, den Herrscher über Licht und Schatten; er wusste bereits, was zu tun war. Ni’yos Stunde war gekommen.
“Glaubst du, dein Erwählter wird sich fügen?“ Am’chur fauchte gereizt auf Murias Einmischung, er ließ sich nicht drängen, von niemandem. Auch nicht von seiner Schwester.
“Ni’yo ist mein“, sagte er grollend. „Er gehorcht dem Gebot der Ehre und er beherrscht die Einsamkeit. Wenn es jemanden gibt, der Charur standhalten kann, dann er.“
“Du selbst hast dabei versagt, warum sollte es einem Sterblichen gelingen? Einem Nachgeborenen, gleichgültig, ob Elfenblut in seinen Adern fließt oder nicht!“ Kaleshs Stimme klang amüsiert. Er war der Erste. Sein Wille hatte die Schattenelfen in Aru erwachen lassen. Am’chur verzichtete beherrscht, auf diese Herausforderung zu antworten, sondern wandte sich an Muria:
“Schick deine Erwählte los. Es muss beginnen, sonst war alles umsonst.“
Er spürte die Wut seiner Schwester, die die Gestalt einer Wölfin annahm, wenn sie in die stoffliche Welt zurückkehren musste. Alle Götter hatten auf diesen Tag gewartet, ihn herbeigesehnt, ihn gefürchtet. Sie alle trugen diese Wut in sich, Wut auf Kalesh, denn nur weil er sich in die Geschicke von Aru einmischen musste, war es zum Ewigen Krieg gekommen. Er hatte das Schicksal der Drachen besiegelt, und nur er allein hatte gewusst, wann dieses Siegel gebrochen werden konnte.
“Es ist soweit“, verkündete Muria. „Es hat begonnen.“

1.

“Nun fürchte dich doch nicht!“
Ni’yo versuchte bereits seit einigen Minuten, den kleinen Jungen zu beruhigen, aber vergeblich: Das Kind weinte nur noch lauter und duckte sich soweit wie möglich von der Hand weg, die ihn eigentlich retten wollte. Viel Platz blieb ihm dafür nicht: Der Junge, der vermutlich aus dem nah gelegenen Bauerndorf stammte, war in einen engen Schacht gefallen. Ni’yo wusste nicht, ob es vielleicht früher einmal ein Brunnen gewesen war, zumindest waren die Wände teilweise gemauert worden. Es kümmerte ihn auch nicht weiter, dafür war er zu sehr damit beschäftigt, mit dem Kopf nach unten hängend zu versuchen, dem Kleinen zu helfen. Ein Seil, das er um den nächstbesten Baumstamm geschlungen hatte, sicherte ihn dabei an den Füßen. Der Junge müsste nichts weiter tun als aufzustehen, dann könnte Ni’yo ihn greifen und nach oben ziehen; doch er weigerte sich strikt. Dass sie beide kaum etwas sehen konnten, weil Ni’yo den Schacht fast vollständig ausfüllte, machte die Sache nicht leichter. Langsam verlor er die Geduld. Das Seil scheuerte unangenehm über seine Fußknöchel, das Blut hämmerte in seinem Kopf von der ungewohnten Lage und das anhaltende Schluchzen zerrte an seinen Nerven.
“Dunkler, Dunkler!“, hatte der Junge gebrüllt, als er Ni’yo oben am Schacht erblickt hatte – zweifellos hielt er ihn für einen Schattenelf. Das geschah häufig, denn Ni’yo besaß nicht nur nachtschwarze Haare und Augen, sondern auch eher dunkle Haut im Vergleich zu den blassen und zumeist flachsblonden Flachländern in diesem Teil Arus. Er war tatsächlich ein Halbblut, seine Mutter war eine Schattenelfe gewesen. Dieses Volk lebte in unterirdischen Städten und war für seine Grausamkeit berüchtigt – nicht völlig zu Unrecht, wie Ni’yo am eigenen Leib hatte erfahren müssen.
“Ich bringe dich nach Hause, zu deinen Eltern“, versuchte er es ein letztes Mal, mit so viel Sanftmut, wie er noch aufbringen konnte. Es sollte eigentlich nicht mehr schmerzen, mit Angst und Ablehnung bedacht zu werden. Ni’yo war damit aufgewachsen und kannte es beinahe nicht anders. Beinahe – Jivvin hatte sein Dasein in dem letzten halben Jahr, seit sie den Tempel des Am’chur verlassen hatten, gründlich durcheinandergebracht. Ni’yo sehnte sich danach, ein Leben zu führen wie jeder andere Mensch auch. So, wie er es früher stets bloß hatte beobachten dürfen. Doch gleichgültig, wie viel sich mittlerweile geändert hatte, Ni’yo musste einsehen, dass er immer anders bleiben würde. Erschreckend und bedrohlich für die Menschen, die ihn nicht kannten.
Das Kind unter ihm wimmerte schwach.
“Du stehst jetzt auf und kommst her!“, grollte Ni’yo plötzlich. Er hatte genug von diesem Unsinn!
Wo Freundlichkeit versagt hatte, wirkte die Drohung sofort: Der Junge hörte auf zu weinen.
“Herkommen!“, befahl Ni’yo scharf. „Sonst komme ich runter, es reicht!“ Seine Augen, die auch in der Dunkelheit mehr sahen als es Menschen möglich war, erhaschten panische Bewegungen unter sich. Schnell packte er zu, erwischte das Kind, das schrill zu brüllen und zu zappeln begann, um dann, als Ni’yo es mit beiden Armen umschloss, völlig zu erstarren. Kraftvoll zog er die Beine an und schaffte es so mitsamt dem angstbebenden Jungen aus dem Schacht heraus. Der Kleine war schmutzig und zerkratzt, schien den Sturz in etwa zwei Schritt Tiefe ansonsten aber gut überstanden zu haben. Zumindest konnte Ni’yo keine Verletzungen an ihm sehen, als er sich mit der einen Hand von dem Seil befreite, mit der anderen dafür sorgte, dass der Junge nicht weglief. Riesige blaue Augen starrten ihn an, erfüllt von Panik. Das Kind war vielleicht drei Jahre alt, schätzte Ni’yo, eher jünger – er wusste wenig von solch kleinen Geschöpfen. Für einen Moment erwog er ihn zu fragen, wie er hieß und ob er tatsächlich aus dem Dorf stammte, in dessen Nähe Ni’yo und Jivvin eine verlassene Holzhütte übernommen hatten. Aber das hätte wohl nur neues Geschrei und Tränenfluten hervorgebracht, also schlang er sich stumm das Seil über die Schulter und marschierte los, den Jungen fest an sich gedrückt. Die Bauern würden sich um das Kind kümmern, egal wohin es gehörte.
Es war Zufall gewesen, dass Ni’yo ihn überhaupt gefunden hatte. Er war eigentlich nur losgezogen, um Reisig zu sammeln, das er mit dem Seil zu handlichen Bündeln hatte schnüren wollen. Der Winter besaß einen langen Atem dieses Jahr und noch immer waren die Nächte so kalt, dass sie das Herdfeuer nicht ausgehen ließen. Ni’yos scharfe Sinne hatten das Wimmern des Kindes wahrgenommen und ihn hierhergeführt, etwa drei Meilen von dem Dorf entfernt. Erstaunlich, sollte der Kleine tatsächlich allein soweit gelaufen sein.
Und wenn seine Mutter hier irgendwo tot oder verletzt liegt?, dachte er und blieb kurz stehen. Es war nichts zu hören, keine Hilferufe, kein Zeichen von Raubtieren, die sich an leichter Beute gütlich taten; darum ging er rasch weiter. Er hoffte, dass Jivvin bereits wieder zuhause sein würde – sein Liebster war am Morgen nach Hebba aufgebrochen, einer kleinen Stadt in der Nähe, wo er einige Felle von Wildtieren verkaufen wollte, die sie beide im Laufe des Winters erlegt hatten. Von dem Geld würde er dann Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände besorgen, die sie nicht selbst sammeln oder herstellen konnten. Es war für sie beide nicht die angenehmste Art, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sie waren Krieger, keine Jäger! Ni’yo wollte Jivvin überreden von hier fortzugehen,, sobald der Frühling vollends die Herrschaft über das Land erobert hatte. Die Kampfkraft von zwei Am’churi wurde immer irgendwo gebraucht. Auch, wenn sie den Tempel verlassen hatten, sie waren und blieben Erwählte des Drachengottes. Er wusste, sein Geliebter wollte eher gestern als morgen von hier verschwinden, zögerte nur aus Rücksicht auf ihn, Ni’yo, es auszusprechen. Dabei war Ni’yo selbst nicht allzu glücklich in dieser Einöde, in der sie außer misstrauischen Nachbarn nichts weiter vermissen würden.