Leseprobe: Die Ehre der Am’churi
1. Kapitel
“Das ist er“, knurrte Jivvin angewidert, als er mit seinen beiden Zimmerkameraden, Lurez und Pitu, den Raum betrat. Sie starrten auf den Neuen, der sich so tief unter seiner Bettdecke verbarg, dass von ihm im Augenblick nur tiefschwarzes Haar zu sehen war.
Ni’yo schreckte hoch, völlig desorientiert. Es dauerte mehrere Augenblicke, bis er sich erinnerte, wo er überhaupt war: im Tempel des Kriegsgottes Am’chur. Er hatte mehrere Stunden lang geschlafen, völlig erschöpft von der Berührung des Gottes. Mit großen dunklen Augen starrte er die drei älteren Jungen an, Am’churi wie er selbst. Auserwählt vom zornigen Drachen. Für gewöhnlich zeigten sich die furchterregenden Zeichen, dass man erwählt war, erst während der Geschlechtsreife. Ein erschreckender Moment – nicht nur für die jungen Krieger, sondern auch deren Familien, die meist sofort alles versuchten, um diese Kreatur loszuwerden. Ni’yo war erst knapp sieben Sommer alt und damit der jüngste Am’churi des Tempels. Ein Hort der Verstoßenen …
“Sieht ja wirklich aus wie eine abgezogene Ratte“, höhnte Pitu und beugte sich grinsend zu Ni’yo herab.
“Na, du Kleiner, kannst du denn schon sprechen?“, fragte er in jenem singenden Ton, mit dem man sich Säuglingen näherte. Ni’yos Gesicht verdüsterte sich, aber er schwieg.
“Sieht nicht so aus. Was will dieser Hosenscheißer bei uns? Aus dem wird doch kein Krieger! Oder soll er ein Haustier für die Großmeister abgeben? Kannst du Stöckchen bringen? Kannst du schön bellen?“, stichelte Pitu weiter. Lurez und Jivvin lachten. Ni’yo ballte die Fäuste, mörderische Blitze funkten in seinem Blick.
“Na los, bell doch mal! Zeig uns, was du kannst! Irgendeinen Grund muss es doch geben, dass du hier bist. Oder wollten deine Eltern dich nur loswerden, weil du völlig nutzlos bist?“ Pitu boxte den Jungen, der langsam von seinem Bett aufgestanden war, hart gegen die Schulter. Ni’yo, der mehr als zwei Köpfe kleiner und kaum so schwer wie ein Schmetterling war, taumelte mehrere Schritte zurück und prallte gegen die Wand. Er zeigte keinen Schmerz, keine Angst, weinte nicht, wie die drei älteren Jungen es erwartet hätten, sondern starrte sie nur finster an.
“Was guckst du so? Na los, Krieger, wehr dich!“ Pitu baute sich vor ihm auf, schubste ihn unsanft zurück gegen die Mauer.
“Pitu, lass ihn. Wenn du ihn verletzt, bekommen wir Ärger“, murmelte Jivvin. Das Glitzern in Ni’yos Blick gefiel ihm nicht, und Großmeister Leruam hatte ihn gebeten, sich ein wenig um den Jungen zu kümmern.
“Keine Angst, ich tu ihm nicht weh. Ich will doch nur wissen, ob der uns überhaupt hört!“Er klopfte mit der Faust gegen Ni’yos Stirn. „Bist du taub? Oder einfach nur blöd?“
“Fass mich nicht an!“, fauchte der Junge und schlug Pitus Hand weg.
“Ho! Jetzt hab ich aber Angst! Sag schön bitte, du Rotznase, dann lass ich dich in Ruhe.“ Er holte aus, um Ni’yo vor die Brust zu schlagen, aber er erreichte nie sein Ziel: Mit einem Mal bewegte sich Ni’yo, schneller, als der Blick folgen konnte, rammte seine beiden kleinen Fäuste in Pitus Unterleib, riss das Knie hoch, als sein Gegner überrascht in sich zusammensackte und traf ihn damit hart ins Gesicht. Klauen brachen aus seinen Fingern hervor, sein Unterkiefer verschob sich, lange Reißzähne wurden sichtbar. Sein bedrohliches Grollen war das einzige Geräusch in der absoluten Stille, die eingetreten war. Pitu lag regungslos am Boden, Blut quoll hell aus seiner Nase. Ni’yo stand über ihm, bleich wie die Wand in seinem Rücken. Mörderische Wut glühte in seinen unmenschlichen Augen, mit denen er Jivvin und Lurez musterte. Sie alle waren Gestaltwandler, halb Mensch, halb Drache, denn dies war Am’churs Gabe. Nur im allerhöchsten Zorn offenbarte sie sich, nur in Todesnot wurden aus den Erwählten wahrhaftige Drachen. Zusätzlich zur Wandlungsfähigkeit besaßen Am’churi außergewöhnliche Heilkräfte, die sie auch schwere Verletzungen in kurzer Zeit durchstehen ließen. Nichts davon war den entsetzten Jungen im Moment bewusst.
“Du hast ihn umgebracht“, wisperte Jivvin, der sich als erster fing. Langsam wagte er sich zu seinem Freund vor, ließ Ni’yo dabei keinen Moment unbeobachtet.
Pitu rührte sich, rollte sich leise stöhnend zusammen. Jivvin zog ihn am Arm außer Reichweite des fremden Jungen, der noch immer eine tödliche Gefahr darstellte. Lurez rannte schreiend aus dem Raum, um Hilfe zu holen.
“Das verzeihe ich dir nie, du Ratte!“, zischte Jivvin zornig. „Niemals, hörst du!“
“Ich hatte ihm gesagt, er soll mich lassen“, flüsterte Ni’yo. Langsam wich die Anspannung in seinem winzigen Körper. Aus den Drachenkrallen wurden wieder menschliche Finger, die er verwirrt betrachtete.
“Er hat dich ein bisschen geschubst, und du schlägst ihn dafür halb tot! Es ist verboten, sich einfach zu verwandeln. Du bist eine Ratte, eine feige Ratte! Und Ratten gehören erschlagen!“
“Was ist hier los?“ Tamu und Leruam, die beiden Vorsteher des Tempels, betraten den Raum. Sie blickten von dem blutüberströmten Kind auf dem Boden zu den beiden vor Zorn sprühenden Jungen, die über Pitu standen.
“Auseinander, ihr beiden!“ Leruam ergriff Ni’yo bei der Schulter, zog ihn hinter sich.
“Es sieht so aus, als hätten wir uns geirrt, dich in dieses Zimmer zu schicken. Jivvin, geh zum Abendessen, es hat längst geläutet. Tamu, kümmere dich um den Jungen, ich denke, seine Nase ist gebrochen. Und Ni’yo, du kommst mit mir.“
“Ich krieg dich“, zischte Jivvin hasserfüllt, bevor er den Raum verließ.
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