Zwischengedanken #2

Eine Facebook-Diskussion hat die Frage aufgeworfen, ob Frauen tatsächlich schwule Literatur schreiben dürfen. Schließlich können sie niemals tatsächlich persönlich erfahren und somit nachfühlen, wie sich schwule Männer fühlen. Egal ob beim Sex, Outing vor den Eltern, Einkaufen, Radfahren, Milchreis kochen: Das wahrhaftige Gefühlsleben eines schwulen Mannes wird mir als Frau stets verschlossen bleiben.
Wenn man das konsequent weiterdenkt, wird mir auch das wahrhaftige Gefühlsleben einer heterosexuellen Frau verschlossen bleiben. Nämlich dann, wenn sie etwas tut, was ich noch nie getan habe. Etwa einen Swingerclub besuchen. Oder sich für ihre Junggesellinnen-Abschiedsparty eine Limousine mieten und mit einem halben Dutzend Mädels im Bunnykostüm durch eine Großstadt brettern, während zwei Dutzend Champagnerflaschen ihr Leben lassen müssen. Oder, der Herr bewahre: Entführt und im Dschungel von Borneo ausgesetzt werden. Hatte ich alles noch nicht, wie kann ich also darüber schreiben?
Muss ich also jede Erfahrung und jede Handlung, die ich schriftlich niederlegen will, erst selbst durchgemacht und erlernt haben?
Und ab wann gilt „erlernt“ als glaubwürdig? Einmal ausprobiert oder doch eher zur Meisterschaft gebracht?
Alle Fantasywelten sind demnach per se gestrichen. Ich kann lernen mit Pistolen zu schießen, Sushi zuzubereiten und afrikanische Regentänze zu zelebrieren, aber ich kann niemals mit Elfen reden, auf einem Drachenrücken sitzend in den Sturzflug übergehen oder mich in einen Adler verwandeln, I’m sorry.
Aber nun ja, wenn ich beim Schießen versage, mein Sushi misslingt und der Regentanz nicht das geringste müde Wölkchen hervorbringt, kann ich ja auch nur über Versager schreiben, nicht über Leute, die Erfolg haben …
Über andere Menschen als mich selbst schreiben, geht also schon mal gar nicht! Höchstens als Randerwähnung. Mit geänderten Namen, klar, damit ich die Persönlichkeitsrechte anderer nicht einschränke. Oder verletze.
Die Titel meiner nächsten Romane, sobald ich mein gesamtes Altwerk den läuternden Flammen übergeben habe, lauten demnach:
„Ich und der Staubsauger“
„Vom sorgsamen Gießen der Pflanzen auf meiner Fensterbank“
„Wie ich den Autoschlüssel suchte und unter der Flurkommode fand“
„Einkaufen: Getränkekästen sind schwer und das Kakaopulver meiner Lieblingsmarke ist mal wieder ausverkauft. Eine Leidensgeschichte in 26 Akten.“
Und ein Drama, huiii, da werden sich Nackenhaare kräuseln: „Frosch! Tot! In meinem Waschkeller!“

So, und jetzt muss ich rasch meine Kinder von der Schule abmelden. Die werden nicht nur von Lehrern unterrichtet, die keine eigenen Kinder haben, nein, die bekommen da auch noch Zeugs über Menschen beigebracht. FREMDE Menschen! Politiker und historische Persönlichkeiten. Wissen und Bildung kann die Fantasie anregen und dann kommen solche Irrtürmer zustande wie der Glaube, man könnte über Dinge schreiben, die man nicht selbst getan oder erlebt hat und …
OH MEIN GOTT! Meine Babys! Meine armen, unschuldigen Kinder! Die haben an dieser Schule DEUTSCHUNTERRICHT! Sie müssen Gedichte interpretieren, von FREMDEN! Fremdes Gedankengut analysieren, was für irreparable Schäden können da verursacht werden! Meine Jüngste musste auch schon Geschichten weiterschreiben, von denen ihnen nur ein Ausschnitt präsentiert worden war, also Dinge fabulieren! *schluchz* Ich hatte doch keine Ahnung, wie schlimm das ist! Und die Große hält heute ein Referat über griechische Götter … Heidnisches Teufelswerk!

*Ironiemodus off*

Alles ist gut, ich werde auch weiter über schwule Kerls, Gestaltwandler, Drachen, Elfen, wahnsinnige Massenmörder und weitere Sündhaftigkeiten schreiben. Hugh!

Ergänzend: In der oben erwähnten Diskussion ging es durchaus auch ernst gemeint um die Frage, ob Frauen, die romantisch verklärte Liebesgeschichtchen im Genre Gay Romance schreiben, nicht dem Kampf der „echten“ Schwulen und Lesben um Anerkennung schaden. Indem Schwule romantisiert und auf ihre Sexualität reduziert werden, erzeugt man in der Leserschaft falsche Vorstellungen der homosexuellen Realtität. Die Überbetonung von Dingen, die selbstverständlich sein sollte, die Thematisierung „Große Liebe“, wenn die Lebensrealität vieler Schwuler eher bei „Job, Wohnung, Überleben“ zu finden ist.
Dazu jetzt auch noch ein paar Gedanken, diesmal ironiebefreit.

Die meisten Leute erleben „Schwule“ nur im Fernsehen. Abgedrehte Drag Queens in Filmen, jämmerliche Tunten, Paradiesvögel bei CSD-Umzügen. Dazwischen Berichte über katholische Priester, die sich an kleinen Jungen vergehen.
Wer im Alltag auf jemanden trifft, von dem er anschließend sagt: „Der is‘ garantiert ne schwule Tunte!“ – na, wen hat er dann wohl gesehen? Vermutlich einen Mann mit Lippenstift und Kajalschwung, oder jemanden mit nasalem Sprechfehler.

Gay Romance zeigt oft Männer, die ganz normal sind. Fritz Müller von nebenan, von dem niemand merkt, dass er schwul ist, weil er eben weder High Heels trägt noch ulkig rumnäselt. Okay, es gibt genug Bücher in diesem Genre, in denen Fritz anschließend Teil einer rosawolkigen, völlig irrealistischen Schmonzette wird, und es würde nicht weiter auffallen, wenn sein Name eben doch „Frieda“ wäre. Trotzdem wird Fritz als „Mensch“ gezeigt, der Kaffee zum Frühstück mag, im Büro arbeitet, sich über rote Ampeln ärgert und auch sonst „Mensch“ ist statt durchgedreht, psychotisch, hyper-exotisch oder gar pervers.
Wenn es nun in einem größeren Teil der Bevölkerung ankommt, dass Schwule nicht allesamt beängstigend, gefährlich, pervers sind, wo liegt der Schaden? Ja, es mag sein, dass da nur ein neues Klischee produziert wird, à la: Schwule suchen alle die große Liebe und es geht ja im Endeffekt hauptsächlich um Sex …
Trotzdem ist man dann einen Schritt weiter. Herzgebrochene Liebessucher sind Menschen, die per se erst mal nicht gefährlich für die Nachbarschaft sind. Möglicherweise kinderschändende Perverslinge, die sich verweiblicht kleiden und dem eigenen Sohn eventuell ein gefährliches Vorbild sein könnten hingegen schon.

Nun, genug davon. Ich schreibe Gay Romance/Gay Fantasy NICHT, um dem Kampf der schwul-lesbischen Community beizustehen und auch nicht, weil ich die Toleranz meiner Mitbürger verändern will. Ich schreibe diese Geschichten zuallerst für mich selbst und danach für all jene, die Freude daran haben. Wer keine Freude hat, möge zum Buch xy seiner Wahl greifen und dort sein Glück finden …

11 Kommentare zu “Zwischengedanken #2”

  1. Kaliene 78 sagt:

    Das nenne ich mal “genau auf den Punkt“
    Hat mir gut gefallen.
    LG

  2. Toni K. sagt:

    Schön geschriebener Artikel.
    Aber wo zum Teufel habe ich diese hochtrabende Diskussion verpasst? Ich bekomme wirklich nichts mit!

  3. Sandra sagt:

    Dank dir, Kaliene. 🙂

  4. BriMel sagt:

    Ach Sandra, du hast es mal wieder auf den Punkt gebracht. Ich bin da ganz deiner Meinung. Außerdem denke ich, dass die Mehrheit der Leserschaft sicher realitätsbezogener ist, als angenommen wird. Sonst dürfte man wirklich keinen Film mehr sehen und auch keinen Roman mehr lesen. Also nur noch Sachbücher und Dokumentationen, denn Filme wie Romane sind ja meist alles andere als real.

    LG BriMel

    • Sandra sagt:

      *BriMel knuddel*
      Man liest Romane nicht, weil die ja die Wirklichkeit genau wiedergeben. Jeder, der älter als 12 ist, sollte das wissen. Ein gewisser Realitätsanteil ist in jedem Nicht-Fantasy-Roman durchaus Pflicht und was nicht realistisch ist, sollte sich zumindest danach anhören. Ansonsten – wer keine Fiktion will, soll die Finger von Liebesromanen lassen, in denen dann frecherweise tatsächlich LIEBE vorkommt. 😀

  5. Vanessa sagt:

    Hallo Sandra,

    dieser Zwischengedanke von dir ist zugegebenermaßen schon älter, allerdings bin ich leider erst heute über deinen Blog „gestolpert“. Ich habe speziell diese Diskussion zur Daseinsberechtigung homoerotischer Literatur von heterosexuellen Frauen zwar verpasst (wie überaus schade:-D), habe derartige Diskussionen allerdings schon an andere Stelle, zum Beispiel innerhalb von Rezensionen beim großen A „miterleben“ dürfen.

    Zunächst mal – niemand sollte Unterhaltungsliteratur schreiben allein um die Sichtweise und Toleranz seiner Mitmenschen ändern zu wollen. Das geht nämlich meiner Einschätzung nach in 100% der Fälle nach hinten los, da es eher den gegenteiligen Effekt hat. Toleranz erreicht man nicht mit mahnendem Zeigefinger und altkluger „Ich- weiß-es-aber-besser-Manier“. Von daher brauchst (und solltest) du dich auch nicht rechtfertigen (müssen), weil du Gay Romance / Gay Fantasy verfasst.

    Zum anderen denke ich, dass es sogar ein bisschen an Heuchelei grenzt, einerseits für mehr Toleranz zu werben (aus der mit viel, viel Glück dann vielleicht sogar Akzeptanz wird) und andererseits dir und anderen Autorinnen quasi verbieten zu wollen, zu schreiben, worüber du schreiben willst, mit der Begründung, dass du ja nicht wissen kannst, wie sich ein schwuler Mann fühlt… Menschen fühlen im Wesentlichen alle dasselbe, egal ob schwarz oder weiß, dick oder dünn, homo- oder heterosexuell… Freude, Glück, Verliebtheit, Freundschaft, Angst, Wut, Hass – das alles fühlt ein jeder zwischendurch mal, und man spürt es sicher nicht anders, weil man schwul oder hetero ist. Insofern könnte sich theoretisch jeder Mensch in die Gedankenwelt eines Anderen versetzen, sofern die Bereitschaft dazu vorhanden ist. Und wer Autorinnen das Recht abspricht Gay Romance zu verfassen, weil sie ja nie erfahren können, was es heißt, schwulen Sex zu praktizieren, der macht im Prinzip dasselbe, was er bei Gay Romance kritisiert: Homosexuelle einzig und allein auf ihre Sexualität reduzieren.
    Schönes Wochenende und liebe Grüße

    Vanessa

    • Sandra sagt:

      Hallo Vanessa,

      dank dir für deine Gedanken zu diesem Thema, das weiterhin aktuell ist … Rechtfertigen muss und ich will ich mich nicht, aber die Diskussion als solche ist ja durchaus berechtigt. Zum Entwickeln von Selbstbewusstsein darf ruhig ein wenig Intoleranz und „Wir-Gefühl“ dazugehören. Wenn sich also eine Gruppe innerhalb der schwul-lesbisch-trans-bi-Regenbogenfamilie erniedrigt oder instrumentalisiert fühlt, muss das nicht verschwiegen werden. Ist halt immer die Frage, wie man’s macht und ob es eine Diskussion bleibt oder Schlammschlacht wird.
      Egal! Ich mach mein Ding und bin glücklich dabei. 🙂

      Auch dir ein wunderbares Wochenende und liebe Grüße,
      Sandra

  6. Vanessa sagt:

    Oh, ich wollte durch meinen Beitrag nicht zum Ausdruck bringen, dass ich die Diskussion an sich falsch finde. Im Gegenteil, als ich anfing Gay Romance zu lesen, hat es mich zunächst auch gewundert, wie viele Frauen sich auf diesem Sektor betätigen, sowohl als Autorinnen, wie auch als Leserinnen. Damit hätte ich nicht gerechnet, bevor ich selbst begonnen habe, mich mit diesem Thema zu beschäftigen.

    Und ich kann absolut nachvollziehen, dass sich innerhalb der schwul-lesbisch-trans-bi-Regenbogenfamilie (ich übernehme deinen Ausdruck an dieser Stelle mal, weil ich ihn sehr gut finde) bei einigen eine gewisse Intoleranz durchsetzt, da insbesondere schwule Männer auch hierzulande teils noch immer mit massiver Abwertung, Ausgrenzung und Verachtung zu kämpfen haben. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn der eine oder andere sich gegen eine vermeintliche oder tatsächliche Instrumentalisierung erhebt, denn machen wir uns nichts vor, es gibt durchaus Werke in diesem Bereich, die tatsächlich sämtliche Klischees bedienen und gut geeignet sind, Vorurteile zu schüren. Auch wenn ich hierbei eher davon ausgehe, dass das so von den Verfasserinnen nicht beabsichtigt war. Es ist eben, wie du schon ganz richtig zum Ausdruck gebracht hast, immer eine Frage der Diskussionsführung. Da wollte ich mit meiner Kritik ansetzen, nicht bei der Sache an sich.

    Sei es drum, dieses Thema ist anscheinend doch komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag… Hauptsache, du hast für dich etwas gefunden, was dir Spaß macht und bei dem du dein schriftstellerisches Können einbringen kannst. Ich lese deine Bücher sehr gerne und werde auch weiterhin nach neuen Werken von dir Ausschau halten.

    Alles Gute und liebe Grüße
    Vanessa

Hinterlasse einen Kommentar