Nächtliche Gedanken …

Diese Tage ist auf Facebook einmal mehr ein Shitstorm losgebrochen. Eine Frau hat eine Geschichte von einer FanFiction-Seite geklaut, sie ein wenig abgeändert und dann unter neuem Namen auf einem anderen Portal zum freien Download eingestellt. Ich will jetzt nicht über Urheberrechte nachgrübeln, denn die sind klar, auch in einem Fall, wo zumindest kein wirtschaftlicher Schaden bei der Bestohlenen entstanden ist. Es gibt auch nicht den geringsten Zweifel, dass es tatsächlich geistiger Diebstahl war, der gesamte Plotverlauf, Satzinhalte, Absatzeinteilung und selbst einige hervorstechende Rechtschreibfehler sind 100% identisch.
Nein, bemerkenswert finde ich zum einen das Ausmaß an krimineller Energie, die hier freigesetzt wurde, denn die Diebin hat ein 90.000 Wörter starkes Skript komplett vom Präsens ins Präteritum übertragen. Sprich, sie hat jeden Satz einzeln angepackt und nicht bloß Spaß an Copy+Paste gehabt. Das macht dermaßen viel Arbeit, in der Zeit hätte die Dame 10 eigene Geschichten schreiben können. Da sie offenbar auch schon eigene Storys verfasst hat, kann es kein Mangel an schreiberischen Fähigkeiten sein. Langeweile war es sicherlich auch nicht. Wäre Schreibblockade der Grund – nun, sie hat die Geschichte kostenlos angeboten, sie konnte also nichts verdienen.
Ausgenommen das Lob derjenigen, die es für ihr Werk hielten. Wie viel ist ein solches Lob wohl wert? Sich mit fremden Federn schmücken und damit wunderschön, talentiert, einfach großartig fühlen, wie geht das? Und wozu, wenn man doch selbst schöne Federn hat und dafür bewundert wurde? Ich verstehe es nicht.
Was mich nervös macht, denn normalerweise kann ich Verhaltensmuster auf irgendeine Art nachempfinden. Ich kann mich zumindest ansatzweise und auf intellektueller Ebene in die Gedanken von jemanden hineinfühlen, der einen Amoklauf starten, einen Marathon gewinnen, eine Bank überfallen, einen Heiratsantrag machen, einen Mord aus Habgier begehen oder sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen will. Doch Plagiatismus, den man dank eigener Fähigkeiten und Talente nicht nötig hat und auch nicht mit Habgier oder Faulheit erklärbar ist, geht mir völlig über den Horizont. Vielleicht muss ich es als eine Art geistige Kleptomanie begreifen? Kleptomanen sind psychisch schwer krank, können den Drang zum Stehlen nicht kontrollieren, kompensieren damit Minderwertigkeitskomplexe, Ängste, Schuldgefühle oder ungelöste Konflikte. Nur, ein Kleptomane stiehlt ja nicht bloß ein oder zwei Mal, er muss es wieder und wieder tun, fühlt sich dadurch schlecht und gerät erneut unter solchen Druck, dass nur ein weiterer Diebstahl ihm helfen kann. Plagiatoren hingegen fallen selten ein zweites Mal auf. Kommt irgendwie nicht hin …
Auffällig ist, wie vehement diese Leute leugnen, schuldig zu sein. Auch im jüngsten Fall wieder: Die Dame fühlt sich völlig zu Unrecht angegriffen und kann sich nicht erklären, was da geschehen sein soll.
Kleptomanen sind sonst immer eher erleichtert, erwischt zu werden. Leute mit schlechtem Gewissen wollen abtauchen und unsichtbar sein, um möglichst wenig Zielfläche zu bieten. Plagiatoren geraten stattdessen in heillose Empörung und stellen sich ins Rampenlicht, um der ganzen Welt zuzubrüllen, dass sie unschuldig sind.
Wenn dieses Rampenlicht das wahre Ziel wäre, würde man sich dann dermaßen viel Arbeit machen wie im gerade aufgeflogenen Fall? Kopieren, speichern, veröffentlichen und warten, dass der Shitstorm losbrechen möge wäre da doch ausreichend.
Vielleicht ist es intensive Liebe zu dem geklauten Text? Man liest ihn immer wieder, träumt davon, bis man nicht mehr weiß, dass man ihn sich nicht selbst erdacht hat? Dafür ist der Verschleierungsaufwand mit anderem Titel, Cover, Namen der Helden usw. zu zielgerichtet.

Nun, egal.
Ich kapier’s nicht, Feierabend.
Fast noch interessanter finde ich den heiligen Zorn, der über einen enttarnten Plagiator hereinbricht. Lichtgestalten wie Guttenberg fallen in ewige Ungnade, einst gefeierte Stars werden nicht einmal mehr zum Kaffeekränzchen bei Oma Hiltrude eingeladen und Autoren, ob nun große oder kleine Sternchen, erleben Shirtstorms, bis sie oben und unten nicht mehr unterscheiden können. Jeder Bankräuber, Erpresser, Autodieb und Steuersünder (wenn es nicht gerade ein sehr, sehr, sehr prominenter ist) kann mit mehr Verständnis und Vergebung rechnen, als diese kleine Autorin, die sich an einer fremden Geschichte vergriff. Wie viele von jenen, die sich dermaßen empören, haben bereits eBooks bei amazon gelesen und anschließend zurückgegeben? Auf Piratenseiten geschnöfelt? Filme im Netz runtergeladen oder sich von jemanden besorgen lassen? Musik-CDs irgendwo ausgeliehen und gebrannt? Auch das ist Diebstahl geistigen Guts! Ja, es ist ein Unterschied, ob man „nur“ klaut oder sich anschließend selbst als Urheber feiern lässt. Trotzdem: Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein! Der muss mir dann allerdings auch feierlich schwören, dass er in der Schule, im Studium und/oder Berufsausbildung niemals abgeschrieben und dafür eine bessere Note bekommen hat.

Einen Menschen virtuell zu schlachten, der etwas Böses getan hat, ist genauso einfach, wie sich irgendwo eine Geschichte zu klauen und sie zu seinem Eigentum zu erklären. Ich finde es ebenso verwerflich wie alle Aufgeregten, dass jemand das geistige Baby eines Autors stiehlt. Diese arme Frau dafür tagelang an den Pranger zu stellen und immer weiter und weiter und noch ein bisschen mehr zu diskutieren, wie sie jetzt auf die Anschuldigungen reagiert … und jetzt … UND JETZT! – empfinde ich dennoch als widerlich. Was auch immer ihre Motive waren, sie ist für alle Zeiten im Internet gebrandmarkt und wird niemals wieder ihre eigenen Geschichten veröffentlichen können, ohne dass das alte Verbrechen aus der Mottenkiste gezogen wird. Warum also weiter in der Wunde rühren und noch ein Pfund Salz reinreiben? Bei allem Verständnis für die Geschädigte, warum muss weiterhin öffentlich geprangert werden? Die Frau liegt längst am Boden, welche Genugtuung kann man jetzt noch vom Nachtreten gewinnen? Die eigenen Wunden lecken kann man im privaten Kreis, denke ich.
Ich verstehe es nicht …

Ich habe in der Schule abgeschrieben. Beinahe ein ganzes Jahr lang. Bis mir klar wurde, dass ich mich dadurch selbst schädige, weil ich nichts lerne und die guten Noten nicht mein Verdienst sind. Darum weiß ich heute, dass ich keine fremden Federn brauche und schon gar nicht haben will. Das spricht mich weder selig noch heilig und gibt mir kein Recht zum Steinewerfen. Nicht auf die Diebin. Auch nicht auf die öffentlichen Anprangerer.
Es gibt mir lediglich das Recht, nicht alles verstehen zu müssen, nur weil ich es könnte.
Amen.

4 Kommentare zu “Nächtliche Gedanken …”

  1. Peter sagt:

    .. weise Worte… dem habe ich nichts hinzuzufügen und stimmt Sandra voll und ganz zu.

  2. Nachtmahr sagt:

    Du sprichst mir völlig aus dem Herzen. Stolz sein auf das eigene Werk und wenn es noch so beschi…. geraten ist, das ist süße Belohnung. Weil man es selbst geschafft hat. Weil man weiß, wie viel Arbeit, Mühe und Schweiß darin steckt. Und weil man es beendet hat. 🙂
    Soziale Plattformen können Spaß machen, aber die Hetzjagden, die regelmäßig entstehen, das gegenseitige Aufputschen und Trittbrettfahren ist mir schon mehrmals übel aufgestoßen. Ich bin harmoniebedürftig, will nette Leute kennenlernen und freundliche Unterhaltungen haben. Keine öffentlichen Hexenverbrennungen.

  3. Sigrid sagt:

    Hallo Sandra,
    da hast du dir ja ziemlich den Kopf zerbrochen über das warum und wieso.Es gibt aber noch eine Erklärung für den Plagiatismus und das öffentliche „Jagen der Sau durchs Dorf“:
    Im erstern Falle wird es wahrscheinlich auch Geltungsbedürfnis, vielleicht auch Neugier (**erkennt jemand meinen Klauversuch, wie weit komme ich damit, werde ich dadurch bekannter?**) gewesen sein.
    Nun – bekannter dürfte diese Frau nun sein, allerdings vielleicht anders, als sie es sich erhofft hatte…!
    Was das öffentliche Schlachten dieser Person angeht: es ist auf den Internetforen der Social Community nun mal schnell und einfach. Und zumeist auch anonym, denken ist nur peripher erwünscht.
    Denk nur mal an die Geschichte mit dem Mord an dem kleinen Mädchen im Parkhaus vor einiger Zeit. Nachdem eine etwaige Täterschaft eines Jungen Mannes publik wurde, ist doch im Internet zum Mord an diesem aufgerufen worden, obwohl die Polizei die Verdächtigungen garnicht bestätigt hatte. Und dann wurde der wirkliche Täter gefunden – was aber in diesen Foren kaum jemanden interessiert hatte. Der Ruf des Mannes war jedenfalls ruiniert, denn es gibt viele Menschen, die sich wahrscheinlich noch heute denken: Da war doch was, ohne Grund ist der doch nicht verdächtigt worden…?
    Leider denken die Menschen, die andere Menschen, ob zu Recht oder nicht,im Internet anklagen oder diffamieren nicht daran, dass das Internet nichts vergisst. Und Klatsch, ist er auch noch so boshaft, richtig oder falsch, will irgendwie jeder hören/lesen.
    Sonst hätten diese Foren und auch die Presse nichts mehr zu tun und wären genau das, was sie meiner Meinung nach zumeist sind: überflüssig.

    • Sandra sagt:

      Liebe Sigrid,

      entschuldige, dass ich erst jetzt antworte – ich hab ein neues Notebook und musste dem erst einmal alles neu beibringen, inklusive der Passwörter. Seit heute kann ich wieder in mein Kontrollzentrum, habe mehrere Dutzend Spammails gelöscht und konnte nun in Ruhe deine Antwort lesen.
      Ob jemand wirklich dumm genug ist, sich auf diese Weise Geltung verschaffen zu wollen? Ich weiß es nicht … Interessant dabei ist ja: Normale Diebe, die erwischt werden, leugnen vielleicht erst mal ein bisschen, in erster Linie ziehen sie aber ertappt die Köpfe ein. Diese Leute hingegen leugnen extrem laut, extrem öffentlich und bis zum bitteren Untergang und darüber hinaus. Irgendetwas stimmt da nicht so ganz in deren Psyche …

      Presse und Social Medias haben extreme Tücken, aber auch ihre Berechtigung und Nutzen. Den Kontakt, den ich über Blog, Foren, Facebook und Co. mit Lesern, Kollegen, Verlegern usw. haben kann, war vor ein paar Jahren schlicht und ergreifend nicht möglich. Ohne dem wäre ich überhaupt nicht in der Lage, erfolgreich selbst zu veröffentlichen. Via Facebook bekomme ich viele Tipps, Anregungen, Warnungen (wenn mal wieder irgendwelche Impressumsgesetze und Co. geändert wurden), kann für meine Bücher werben, mit meinen Lesern chatten …
      Diese virtuellen Hinrichtungen sind ein Grauen, absolut, doch für mich überwiegen die Vorteile.

      LG,
      Sandra

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