Lesehäppchen: Das Tier

Es war eine Nacht wie jede andere. Oder zumindest hätte es eine Nacht wie jede andere werden sollen. Cyrian stand an seinem Platz in der von Gaslaternen schummrig beleuchteten Straße und bot sich mit einem strahlenden Lächeln den Freiern an. Mit seinen zwanzig Jahren sah er weit jünger aus, mit dem lockigen blonden Haar und seinen großen braunen Augen traf er den Geschmack der Lustsuchenden und der ewige Hunger in seiner Kindheit hatte ihm eine schmächtige Statur verpasst. Nachdem er sich als Dieb nicht geschickt genug angestellt und Meister Flinkfinger ihn fortgeprügelt hatte, hatte seine Mutter – Brudfor habe sie selig – ihn kurzerhand zum Anschaffen an die Straße gestellt. Nun nutzte er die Tatsache, dass er viel jünger aussah, als er eigentlich war, schamlos aus, um den Preis nach oben zu treiben. Schließlich gab es einen gewissen Kundenkreis, der umso mehr zahlte, je jünger der sich Anbietende war.
Ein Mann näherte sich ihm. Er war einer von der Stadtwache, was nicht ungewöhnlich war. Die Wachen kamen oft in die Rotenbachstraße, selten dienstlich, manchmal privat, manchmal um Schweigegeld zu erpressen, da das Treiben in dieser Straße eigentlich unter Strafe stand. Cyrian setzte sein einstudiertes Lächeln auf und als der Mann zustimmend nickte, winkte Cyrian ihn in eine dunkle Gasse. Hier pflegte er seine Kunden zu bedienen. Ein Zimmer konnte er sich nicht leisten, denn er sparte eisern. Schließlich würde er nicht ewig jung bleiben und sein Auskommen mit seinem blanken Hintern verdienen können. Und die Herbergsväter nahmen horrende Preise, damit die leichten Herren für eine halbe Stunde auf dem Rücken liegen konnten.
„Wie kann ich zu Diensten sein?“, fragte Cyrian und wandte sich dem Freier zu.
„Es geht nicht um mich, du Wicht. Aber du bist bestimmt ein nettes Geschenk.“
Verwirrt blinzelte er. „Was?“
Plötzlich tauchten drei weitere Wachen aus dem Dunkel auf. Ehe Cyrian reagieren konnte, wurde er von starken Händen gepackt und festgehalten. Ein Knebel fand den Weg zwischen seine Zähne und seine Arme wurden ihm auf den Rücken gebogen und dort fest verschnürt. Angstvoll brüllte er auf. Er hatte von Privatorgien gehört, an denen Schicksalsgenossen unfreiwillig hatten teilhaben dürfen. Sollte ihm ein ähnliches Schicksal blühen? Darauf war er nun wirklich nicht scharf.
„Zappel soviel du willst. Du wist noch mehr zappeln, wenn dich das Tier in seinen Fängen hat.“ Amüsiertes Gelächter erscholl um ihn her, ehe er grob mitgezerrt wurde.
Das Tier?
Cyrian wurde ganz steif, was die Wachen nicht davon abhielt, ihn einfach mitzuschleifen. Jeder hatte von dem Tier gehört, dem gnadenlosen Serienmörder, der seit geraumer Zeit in der finstersten Kerkerzelle des Gefängnisses saß. Grausam hatte er seine Opfer zur Strecke gebracht und sie in seiner Wut regelrecht in Stücke zerhackt und zerrissen. Allesamt waren sie Angehörige der gehobenen Schicht gewesen und es ging ein deutliches Aufatmen durch ihre Reihen, nachdem man das Tier endlich gefasst hatte. Für Cyrian und viele andere war es allerdings ein unerklärliches Phänomen, warum man den Mörder nicht längst hingerichtet hatte.
„Das wird ein Spaß!“ Die Wächter lachten.
„Ob er das zu würdigen weiß, wie wir uns um seine Bedürfnisse kümmern?“, feixte einer.
„Und gleichzeitig räumen wir den Abschaum von der Straße“, fügte ein weiterer hinzu. Cyrian trat ihm gegen das Schienbein. Er war kein Abschaum! Prompt fing er sich eine Ohrfeige ein.
„Tritt ruhig“, wurde ihm hämisch ins Ohr geflüstert. „Du wirst noch früh genug um dich schlagen, beißen und treten. Wenn du nämlich in den Klauen des Tieres gefangen bist. Dann kannst du heulen und jammern soviel du willst. Da unten in den Kerkerzellen wird dich keiner hören.“
Angstvoll starrte er die Wachen an, die ihn mit sich zerrten. In seinem Magen bildete sich ein dicker, fester Klumpen, der ihm die Kehle hochwanderte und ihm die Luft abdrückte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und tropfte ihm in die Augen. Mit aller Kraft versuchte er sich zu wehren, sich loszureißen und zu befreien. Doch er fing sich lediglich schmerzhafte Hiebe und Knüffe ein.
„Es soll niemand sagen, dass wir unserem besonderen Gefangenen nicht alle Wünsche erfüllen.“
Cyrian wurde angegrinst. Leider konnte er den Humor überhaupt nicht teilen.

5 Kommentare zu “Lesehäppchen: Das Tier”

  1. Daria sagt:

    Ihr seid ganz schön gemein, mir erst den Mund wässerig machen und dann ist der Happen auch schon wieder zu Ende *seuf* (ich will mehr :-D!!!!!!!!!!!!!!!!!!)

  2. Sumito sagt:

    ich hab nur eine frage…………………..WIE LANGE DAUERT ES NOCH BIS IHR DAS EBOOK ON STELLT *GG*

  3. sigrid wenzel sagt:

    Irgendwie seid ihr zwei ja ganz schön gemein… Da werft ihr eurer ewig hungrigen Leserschaft solch ein saftiges Häppchen hin und dann lasst ihr uns auf den ganzen Braten noch lange warten.
    **beleidigtschmoll**

  4. Sandra sagt:

    Na ja, deshalb hatte ich ja gefragt, ob ihr wirklich ein Häppchen wollt. 😉

    Ich bin gerade dabei, über jedes einzelne Wort zu kriechen, Sannas Fragen und Anmerkungen an mich abzuarbeiten, Dopplungen zu suchen (örks!), die Handlung etc. zu durchdenken, Kapitel einzuteilen und ein paar Dutzend Kommentare für Sanna zu hinterlassen. Danach ist sie wieder dran. Wir wollen ja nicht, dass der Braten noch halb roh serviert wird, oder unzureichend gewürzt, oder …
    Nja.
    Ein bisschen dauert es noch. Heute Nacht will ich noch ca. 2 Stunden investieren, vielleicht auch 3. Morgen hab ich keinerlei Verpflichtungen (abgesehen von solchem Unfug wie Haushalt und kochen) und kann mich entsprechend so 8-12 Stunden reinhängen.
    Immerhin ist das Cover schon fertig. Rund 22 Stunden pures Vergnügen. ^^
    Bin dann mal wieder in der Küche, äh, am Skript! Vivaldi assistiert mir fleißig, irgendwie kann ich bei „Sommer“ gerade am besten denken. 🙂

  5. Nachtmahr sagt:

    Habe ich das Wort „Dopplungen“ gelesen?
    *Grönlandticketonewaybuch*

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