Leseprobe Eisiges Feuer

Leseprobe: Eisiges Feuer

2. Kapitel

“Kirian?“
Der Anführer der Diebesbande blickte auf. Es war riskant ihn anzusprechen, wenn er sich in seine Hütte zurückzog und die Tür fest verschloss – er reagierte äußerst reizbar auf Störungen. Genau aus diesem Grund trat Albor nicht ein, zeigte nicht einmal seine Nasenspitze. Kirian brummte etwas, das friedlich genug klang, um seinen besten Mann zu beruhigen. Was auch immer Albor hergetrieben hatte, es musste wichtig sein. Wichtiger als die Briefe, die Kirian gerade las, Dokumente, die er beim letzten Überfall auf eine Händlergruppe erbeutet hatte.
“Wir haben zwei Gefangene“, murmelte Albor kaum hörbar. „Adlige. Brüder, denke ich.“
“Hatten sie etwas Besonderes bei sich?“ Kirian schob die Dokumente beiseite. Beunruhigende Neuigkeiten waren das. Die Fürsten mehrerer Länder wollten sich verbünden, um dem wachsenden Problem der Überfälle Herr zu werden. Kirians Bande lauerte den Reisenden mehrerer großer Handelsstraßen auf. Bisher war es noch keinem Soldatentrupp gelungen, ihr Hauptlager zu finden, aber das konnte sich rasch ändern, wenn sie nicht vorsichtig waren.
Albor warf die Habe der Gefangenen auf den Tisch: Zwei Schwerter, zwei Jagdmesser, zwei leere Geldbeutel.
“Kein Gepäck, keine Ausrüstung?“ Kirian nahm eines der verzierten Schwertgehänge an sich und hielt es ins Licht, das durch die Fensteröffnung fiel.
“Nichts. Der Jüngere trägt noch eine Kette mit Anhänger um den Hals, er wird wild, wenn man die nur ansieht. Dabei is’ die völlig wertlos. Möglich, dass unter ihren Umhängen noch etwas versteckt ist, wir haben sie bis jetzt nur gefesselt und hergeschafft. War anstrengend genug.“
“Das Wappen der Familie Corlin“, sagte Kirian leise und tippte auf den stilisierten Berglöwen, der in die Schwertscheide eingeprägt war. „Roban und Lyskir von Corlin, so heißen unsere Gäste.“
Albor erbleichte ein wenig, soweit das bei seiner dunkelbraunen Haut und dem struppigen Vollbart zu erkennen war. Eine Narbe lief quer über sein Gesicht, was ihm ein gefährliches Aussehen verlieh. „Hochrangige Gäste“, erwiderte er hustend. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet! Die Fürsten von Corlin stellten im Nordwesten die größte Macht dar, die es diesseits der Eisenberge gab. „Das Schloss befindet sich wenigstens hundert Meilen östlich! Wie beim dreigehörnten Schattenfresser kommen die hierhin, Kirian? Ohne Ausrüstung und Eskorte?“
“Lass es uns herausfinden. Sind sie unverletzt?“
“Hm, weitestgehend. Ein bisschen zerzaust, vom Angriff eben.“ Albor schilderte kurz, wie der Überfall abgelaufen war.
“Nun gut. Ahm, Albor, man will unser gemütliches Nest mal wieder ausräuchern. Gib das an die Jungs weiter“, befahl Kirian und strich sich das lange schwarze Haar über die Schultern. „Die Corlins dürfen nicht ernsthaft beschädigt werden, eine Lösegeldforderung ist ausgeschlossen. Das allerdings müssen wir unseren Gästen nicht auf die Nase binden.“ Er grinste wölfisch, rückte seinen Säbel zurecht und verließ dann die Hütte, mit jenem selbstbewusst federnden Schritt, der Kirian die Eleganz einer Raubkatze verlieh. Er war ein Herrscher, egal, wo er sich befand, er dominierte jeden Raum, den er betrat. Es gab immer wieder mal Wahnsinnige, die versuchten, ihn herauszufordern, ob im offenen Kampf oder einem hinterhältigen Anschlag. Bislang hatte noch niemand diesen Versuch überlebt.

Die beiden Fürstensöhne knieten gefesselt am Boden, ihre Augen waren noch verbunden. Der Ältere verfluchte gerade seine Bewacher. Kirian steckte lässig die Daumen in den Hosenbund und hörte sich grinsend den Ausbruch an:
“… ehrlosen Angriff bereuen, ich schwöre es! Niemand wirft mich wie einen Sack Mehl über ein Pferd und schleift mich stundenlang durchs Unterholz, wie könnt ihr es wagen?“
“Geht das schon die ganze Zeit so?“, lachte Kirian, was den Gefangenen sofort verstummen ließ.
“Du ahnst es nicht, Sheruk. Ich hatte schon Hafenhuren, die schweigsamer waren“, erwiderte Bille und rollte heftig die Augen. Sheruk war der Ehrentitel für einen Räuberhauptmann. Kirian entging nicht, dass beide Gefangenen bei diesem Wort zusammenzuckten.
“Nun, reden sollen sie, ich habe viele Fragen. Nehmt ihnen die Augenbinden ab.“
Er achtete nicht weiter auf Roban, den älteren der beiden Brüder. Kirian wusste genug über diesen Mann. Der war vielleicht im Moment ein wenig unbeherrscht, würde aber freiwillig kein Wort über seine Absichten verraten. In den dreißig Jahre seines Lebens als Erbe altehrwürdiger, streitbarer Fürsten hatte er sich einen Namen als standhafter Krieger gemacht, von seinen Untergebenen angebetet, von seinen Feinden gefürchtet. Man konnte es fast als Ehre bezeichnen, einen solchen Mann überrumpeln und gefangen nehmen zu können. Interessanter war der jüngere Corlin. Kirian erinnerte sich nicht, wie alt Lyskir sein mochte, auf jeden Fall war der Junge noch nicht auf dem Schlachtfeld gewesen. Womöglich nahm er noch nicht einmal am Intrigenspiel teil, im Gegensatz zu seinem Bruder. Kirian beobachtete jede der steifen Bewegungen des hochgewachsenen Adligen, registrierte die Anspannung, die von ihm ausstrahlte. Er war größer als sein Bruder, besaß jedoch nicht dessen stählernen, muskelbepackten Körper. Das Gesicht war von nahezu perfekter Symmetrie, beherrscht von ausdrucksstarken braunen Augen. Für gewöhnlich verachtete Kirian solche Schönheit bei Männern, da es sich meist entweder um eitle, nur auf Äußerlichkeiten bedachte Dummköpfe handelte, die allenfalls durch die Zahl ihrer Bettabenteuer auffielen, oder um weichliche Jungen, die niemals wirklich erwachsen zu werden schienen. Im besten Fall besaßen sie Köpfchen, worauf man sich allerdings nicht verlassen konnte. Dieser junge Mann hier schien zu der seltenen Sorte zu gehören, die sowohl Geist als auch Mut besaßen. Trotz seiner offensichtlichen Angst blickte er geradewegs zu Kirian auf, studierte ruhig das Gesicht des Mannes, der über sein Leben und Schicksal entscheiden würde. Kein Trotz, keine Wut – was war in diesem Blick verborgen? Kirian blieb bei seiner Entscheidung. Roban wäre nur mit äußerster Gewalt zu brechen, oder indem man ihn bei der Folterung des Jüngeren zusehen ließ. Beides kam nicht in Frage. Lyskir hingegen würde sich vermutlich bei der richtigen Art von Bedrohung beugen. Wenn nicht, nun, dann würden Kirians Fragen wohl ärgerlicherweise keine Antwort finden.
“Sperrt ihn ins Loch“, sagte er und wies mit dem Kinn in Robans Richtung. „Der Kleine kommt zu mir.“
“NEIN!“, brüllte Roban und begann unvermittelt, wie ein tollwütiger Wolf gegen seine Bewacher zu kämpfen. „Rührt ihn nicht an! Nehmt mich! NEIN!“ Trotz seiner auf den Rücken gefesselten Hände schaffte er es, sich den Räubern zu entwinden und einem der Männer in den Unterleib zu treten.
Kirian bewegte sich schnell: Plötzlich umklammerte er Roban von hinten mit eisernem Griff und presste ihm seinen Säbel an die Kehle.
“Bindet ihm die Augen“, befahl Kirian knapp, und dann, zu Roban gewandt: „Dein Bruder wird für jeglichen Fehltritt zahlen, den du dir leistet, verstanden?“ Das wütende Feuer in Roban erlosch augenblicklich, er ließ sich ohne Widerstand zu Boden zwingen. „Alles wird gut, Lys“, rief er, als man ihn fortbrachte.
Lys war während des Ausbruchs seines Bruders still geblieben. Jetzt starrte er ihm hinterher, das Gesicht von Angst verzerrt.
“Du wirst ihn lebendig wieder sehen, wenn du mir keine Schwierigkeiten machst“, sagte Kirian. Lys nickte, schaffte es aber erst nach zwei Anläufen, seine Panik hinter einer Maske eisern beherrschter Gleichgültigkeit zu verstecken. Kirian zwinkerte Albor heimlich zu. Das hier versprach ein vergnüglicher Nachmittag zu werden!

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